von Ceren Ercan, übersetzt von Monika Demirel

Mit: Justine Hauer, Selin Kavak, Manuel Klein
Regie: Frank Heuel
Bühne und Kostüme: Annika Ley
Sound, Musik: Ömer Sarıgedik
Premiere: 18. Januar 2018, theaterimballsaal, Bonn

Deutschland ist eines der beliebtesten Einwanderungsziele der Türken. Daran hat sich seit Jahrzehnten nichts geändert. Doch der 15. Juli 2016, der Tag des Putschversuches in der Türkei, markiert den Beginn einer neuen Einwanderungsbewegung. Das One-Way-Ticket hat bei den meisten das Ziel Berlin. Die deutsche Hauptstadt, in der bereits 200.000 Menschen mit einer türkischen Herkunftsgeschichte leben, zieht Intellektuelle, Journalist*innen, Künstler*innen insbesondere aus den großen Metropolen Ankara und Istanbul an. Ihre Wege kreuzen sich in Berlin kaum mit denen, die schon dort länger leben. Die junge, politisch hoch interessierte und dynamische Diaspora hat bereits einen eigenen Namen: Sie sind die New-Wave-Berliner*innen, unter Hochdruck auf der Suche nach einem eigenen Lebensstil, einer neuen Identität.

In ZEIT FÜR BERLIN verfolgt die türkische Autorin Ceren Ercan drei junge Menschen in den Straßen von Berlin und Istanbul, die Teil der New-Wave-Berlin sind oder es werden wollen. Sie sehen sich als europäische Türken. Sie eint die Tatsache, dass sie das politische Klima in der Türkei nicht mit ihren Zielen und ihrem Leben vereinbaren lässt. Aber was erwartet sie in Berlin? Werden sie hier ein neues Leben für sich kreieren können?

ZEIT FÜR BERLIN ist ein starkes Stück über drei junge Menschen, die einen politisch motivierten Sprung in ein neues Leben wagen – ohne Netz.

Eine Produktion von fringe ensemble/Türkei GbR. Gefördert durch: Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Goethe Institut Istanbul.

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Bosporus-Postpunk

Berlin ist eine Utopie, Projektionsfläche für Hoffnungen und Freiheit. Aber wer hinfährt und es nicht findet, hat keine Ansprüche an niemand. Auch für viele junge Türkinnen und Türken ist Berlin nach dem Putschversuch 2016 in ihrem Land ein Mekka für Neuanfänge und Selbstbefreiung, Hoffnung auf ein nicht nur politisch besseres Leben. Die türkische Autorin Ceren Ercan greift in »Zeit für Berlin« die Wünsche und Träume dreier solcher junger Menschen auf. Die beinahe leere Bühne im Ballsaal-Theater lässt viel Raum für die drei Menschen und ihre Erwartungen an ein (neues) Leben. Markierungen auf dem Boden, ein paar Stühle, ein Kühlschrank und ein Bildschirm lassen eher an eine Probe oder ein zweckdienlich eingerichtetes Café denken. Diese existentielle Leere aber füllen Justine Hauer, Selin Kavak und Manuel Klein mit Figuren, deren Erfahrungen und Träume sich nach und nach zu einem breiten und so menschlichem wie widersprüchlichem Bild unserer Zeit entfalten.

Befremdet in die Fremde

Selin Kavak gibt eine ungestüme junge Schauspielerin, die sympathisch zwischen Unerfahrenheit und unbedingtem Willen vorwärts zu kommen schwankt. Lebenslustig, aber von der neuen Stadtwelt irritiert, verliert sie sich zwischen Partys und Sprachkursen, sucht Anerkennung bei Filmstudenten und Bekanntschaften in sozialen Netzwerken, hadert mit Enttäuschungen und kollidiert mit der harten sozialen Realität. Noch nicht angekommen ist Özge, die in Istanbul Schritt für Schritt ihren Umzug nach Berlin in die Wege leitet. Befremdet vom Leben in ihrer Heimatstadt Istanbul, sitzt sie voller Angst im Taxi oder verkauft liebgewordene Dinge und ihre Wohnungsgegenstände an Freunde, die ihr plötzlich fremd erscheinen. Justine Hauer spielt eine Frau, die es innerlich zu zerreißen droht, aber die ihr Ziel trotz aller Zweifel nicht aus den Augen verliert: einen Neuanfang.

Zwischen allen Stühlen und den Welten bewegt sich Eran, gespielt von Manuel Klein. Als seltsamer Racheengel bewegt sich der junge Mann durch die grauen Straßen von Berlin. Sein Großvater soll früher in Berliner Zockerhöhlen seinen mageren Gastarbeiterlohn verzockt haben, und Eran folgt seinen Spuren, um – vergeblich – Gerechtigkeit zu suchen. Stattdessen macht er Zufallsbekanntschaften, übernachtet in fremden Wohnungen und gerät dabei an einen dieser neuen rechten Businesstypen in der gar nicht so liberalen Hauptstadt.

Perspektiven politischen Theaters

Regisseur Frank Heuel vertraut Schauspielerinnen und Schauspielern, lässt sie häufig als Geschichtenerzähler vor das Publikum treten. Fast schon plaudernd erzählen sie ihre Lebensgeschichten und lassen auch die kleinen, feinen Lebenslügen wie bunte Großstadtlichter flackern. Heuel durchbricht die Erzählroutine aber gekonnt, mit wie improvisiert wirkenden Szenerien. Das Berliner Clubleben leuchtet plötzlich grell und emotionsgeladen auf der nackten Bühne, Kampfflugzeuge jagen bedrohlich durch die Istanbuler Nacht.

Ebenso flimmern wiederholt plötzlich gespenstisch Filme und Bilder über den riesigen Fernseher. Auch die Musik sorgt dann und wann für Unbehagen, und die Kompositionen von Ömer Sarigedik haben wenig Sinn für Berlinpathos, sondern setzen lieber auf von Postpunk angehauchte Liedermacherklänge, die Brücken weit über den Bosporus bauen.

Die politische Brisanz des Stücks leuchtet ein. Während das aber bei den Bonner Aufführungen für Ensemble und Publikum gleichermaßen ›problemlos‹ zu realisieren und genießen ist, geht es bei der in Istanbul parallel laufenden Produktion des Stückes ungleich schwieriger zu. Allein die Erwähnung des 2016er- Putsches auf einer Bühne steht dort unter Strafe, und dem Ensemble in der Türkei droht ständig die Verhaftung. Diesen Mut gilt es zumindest mit einem Theaterbesuch in Endenich zu unterstützen. Besonders weil »Zeit für Berlin« nicht nur spannendes Gegenwartstheater ist, sondern auch auf faszinierende Art und Weise Tücken und Perspektiven politischen Theaters ausleuchtet – und das ist in diesen Zeiten dringend nötig.

Christoph Pierschke, schnüss, April 2018    

Irgendwie geht es immer weiter

Auf der Spur der türkischen „New-Wave-Berliner“
Es sind Geschichten vom Weggehen und Ankommen. Die vielfach ausgezeichnete türkische Autorin und Dramaturgin Ceren Ercan lässt drei Menschen berichten von ihren Erfahrungen zwischen den Metropolen Istanbul und Berlin. Die deutsche Hauptstadt, in der rund 200 000 Menschen mit türkischer Herkunftsgeschichte leben, zieht vor allem nach dem Putschversuch 2016 viele Intellektuelle und Künstler an, die sich dort mehr kreative Freiheit erhoffen.
Es sind weltoffene Großstadtmenschen wie Deniz, Eran und Özge, eher in den sozialen Netzwerken und der Clubszene zu Hause als in strengen Traditionen. Sie sind nicht direkt politisch bedroht, wollen jedoch weg aus der immer rigider ins Leben eingreifenden Diktatur. Mit den Arbeitsmigranten früherer Generationen verbindet diese neuen Einwanderer wenig. Die türkischen „New-Wave-Berliner“ haben ihren eigenen unkonventionellen Lebensstil entwickelt. Das Stück „Zeit für Berlin“, inszeniert von Frank Heuel, begibt sich auf die Spur dieser neuen Bewegung. Heuel, Leiter des Bonner Fringe-Ensembles, hat als Stipendiat der Kunststiftung NRW in Istanbul mit freien Theatern mehrere neue Stücke erarbeitet. Die vierte Produktion wurde am 22. Dezember uraufgeführt und gleich zu einer der zehn besten Inszenierungen des Jahres in der gesamten Türkei gekürt. Am Donnerstag feierte sie im Theater im Ballsaal ihre zu Recht mit viel Beifall bedachte deutschsprachige Erstaufführung.
Die Hoffnung auf ein Engagement
Die sparsam möblierte Bühne von Ausstatterin Annika Ley mit ein paar weißen Bodenmarkierungen suggeriert Freiräume, aber auch Grenzen. Selin Kavak spielt die junge Schauspielerin Deniz, die nach ihrer Ausbildung am Istanbuler Konservatorium in der Theaterstadt ihrer Träume Fuß fassen wollte. Begeistert von der Schaubühne, Ostermeier-Fan, voller Hoffnung auf ein Engagement am Gorki-Theater. Zwischen den Sprachkursen hangelt sie sich durch. Ein bisschen schüchtern, aber auch neugierig auf wilde Partys und neue Freunde.
Manuel Klein spielt Eran, der von sich behauptet, nur gekommen zu sein, um seinen Großvater zu rächen, der sein ganzes Geld in Berliner Spielhöllen verzockte. Der charmante junge Mann flaniert mit leichtem Gepäck durch die angesagten Locations und findet stets Unterschlupf bei Zufallsbekanntschaften. Einer seiner gleichaltrigen Gastgeber (nur auf einem von Eran geschulterten Bildschirm anwesend) bekennt sich überraschend als rechtskonservativer Wähler. Angst und Widersprüche bleiben auch im scheinbar so liberalen Exil. Unter die Haut gehen die Sorgen der anscheinend so selbstbewussten Mitdreißigerin Özge, eindringlich verkörpert von Justine Hauer. Mit kühler Ironie schildert sie den Verkauf der gesamten Einrichtung ihrer schönen Wohnung in Istanbul. Selbst ihre geliebte Katze gab sie in ein übles Tierheim, um völlig ungebunden in Berlin neu anzufangen.
Die drei biografischen Fragmente verbinden sich auf der Bühne zum exemplarischen Bild einer europäisch denkenden Generation von Türken, die sich als Fremdling erlebt in der alten und neuen Heimat. Ihre Vorstellung ist über pausenlose anderthalb Stunden (unterstützt vom Soundtrack des Komponisten Ömer Sarigedik) ungemein spannend.
Elisabeth Einecke-Klövekorn, General-Anzeiger Bonn, 20. Januar 2018