Bonner General-Anzeiger - 18.05.2024
Eine junge Frau überlebt
Anstehende Premiere im Ballsaal: „An das Wilde glauben“ erzählt von Folgen eines Bärenangriffs
Von Judith Nikula. Sie ist 29 Jahre alt, als es passiert. Im August 2015, während einer Forschungsreise auf der Halbinsel Kamtschatka. Sie unternimmt eine Bergtour, steigt gerade zurück ins Tal hinab, als plötzlich ein Bär vor ihr steht. So nah, dass sie nicht mehr ausweichen kann. Das Tier greift sie an, beißt ihr ins Gesicht, in den Kopf, ins Bein. Sie wehrt sich mit einem Eispickel, überlebt schwer verletzt – und doch wird nichts mehr so sein wie zuvor. Die Grenzen zwischen dem Bären und ihrer eigenen Identität verschwimmen nach dem Angriff für sie. Dies ist eine wahre Geschichte, erlebt hat sie die französische Anthropologin Nastassja Martin. Das war vor knapp zehn Jahren. Ihre Erfahrungen, insbesondere ihren Heilungsprozess verarbeitete sie anschließend in dem Roman „An das Wilde glauben“, der jetzt im Theater im Ballsaal vom Fringe Ensemble auf die Bühne gebracht wird. Premiere ist am Freitag, 24. Mai, um 20 Uhr.
Für wen sich das Stück besonders lohnt? „Natürlich für alle“, sagt Claudia Grönemeyer, Pressesprecherin des Theaters. „Es ist die Geschichte einer extrem starken, mutigen und inspirierenden Frau.“ Das bestätigt auch Regisseur David Fischer. Seine Inszenierung hält sich – mit einigen Kürzungen – eng an die Buchvorlage. „Letztlich geht es darum, dass es eben nicht nur ein Unglücksfall gewesen ist, sondern Martin auch einen gewissen Sinn aus dem Erlebten gezogen hat“, sagt er im Pressegespräch mit dem General-Anzeiger. „Dieses Buch hinterlässt Spuren.“
Fischer absolvierte seine Schauspielausbildung in München und arbeitet seit mehr als 20 Jahren immer wieder mit dem Theater im Ballsaal zusammen – seiner „künstlerischen Heimat“, wie er sagt. Bislang stand er überwiegend als Schauspieler auf der Bühne, jetzt übernimmt er in Bonn „die erste Regie mit professionellen Darstellern“.
Das Stück fügt sich ein in eine Reihe von Projekten, in denen das Fringe Ensemble das Verhältnis von Mensch und Natur verhandelt und neue Zukunftsperspektiven aufzeigen will.
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Bonner General-Anzeiger - 27.05.2024
Der folgenreiche Kuss des Bären
Das Fringe Ensemble bringt im Theater im Ballsaal die Erzählung „An das Wilde glauben“ von Nastassja Martin auf die Bühne
Von Elisabeth Einecke-Klövekorn
In einer Novelle wäre es die klassische unerhörte Begebenheit. An einem Tag im August 2015 begegnet die 29jährige französische Anthropologin Nastassja Martin bei einer Bergtour auf der russischen Halbinsel Kamtschatka einem Bären. Beide überleben das Treffen schwerverletzt. Vom „Kuss des Bären“ und seinen Folgen für die eigene Wahrnehmung berichtet Martins 2019 erschienene autobiografische Erzählung „Croire aux fauves“, 2021 auf Deutsch veröffentlicht unter dem Titel „An das Wilde glauben“. Die Autorin des viel mediales Aufsehen erregenden Werkes ist Wissenschaftlerin, promoviert bei einem Schüler des berühmten Ethnologen Claude Lévi-Strauss, der den Begriff des „wilden Denkens“ prägte und damit die Denkweisen von naturnah lebenden Kulturen benannte, die auf traditionell ganzheitlichen und mythisch definierten Weltanschauungen beruhen.
Martin hat als teilnehmende Beobachterin die Lebensformen des auf Kamtschatka halbnomadisch umherziehenden indigenen Volkes der Ewenen erforscht. Sie kennt die Gefahren der Identifikation mit dem Fremden und versucht, der Faszination der magischen Weltsicht zu widerstehen. Nach dem Kampf mit dem Bären ist sie buchstäblich eine Zerrissene.
In der neuen Produktion des Fringe Ensembles, die am Samstag im ausverkauften Theater im Ballsaal ihre Premiere feierte, verkörpern die Schauspielerinnen Bettina Marugg im langen grünen Mantel und Laila Nielsen in sportlicher grauer Jacke zur weißen Hose die Erzählerin. In der Inszenierung von David Fischer (Regie und Bühne), als Schauspieler ebenfalls langjähriges Mitglied des Ensembles, präsentieren die beiden Frauen den sprachlich komplexen Text als inneren Dialog, mitunter auch zweistimmig synchron oder leicht zeitversetzt als eine Art Kanon.
Ein Haufen wie urzeitliche Knochen blankgescheuertes Treibholz dominiert die Bühne. Daneben zwei Hütten, Hocker, moderne Sessel und ein Tisch, der auch als Krankenbett dient. Vorsichtig zieht das Licht den Blick von der Zuschauerrängen auf das dramatische Geschehen. Es wird nicht illustriert, sondern aus verschiedenen Sichtweisen reflektiert. Im Hintergrund geistert Bühnenbildner Eduardo Serú als stummes Faktotum herum, zeichnet geheimnisvolle Embleme an die Rückwand und lässt eine kurze Passage per Live-Kamera auf einem kleinen Bildschirm als Wirklichkeits-Verfremdung erscheinen.
Der Bär wird zum Spiegel für die Traumzeit, in der Mensch und Tier vereint waren wie die Schimären der antiken Mythologie. „Ich sehe mir nicht mehr ähnlich“, erklärt die Erzählerin nach dem Biss, der ihr Gesicht zerstörte. Berichtet wird – gelegentlich mit sarkastischem Humor – von der Reise ins politische Sperrgebiet, der Rettung per Hubschrauber, den Notoperationen in einem russischen Krankenhaus und der langen, schmerzhaften Wiederherstellung ihres versehrten Körpers in der Pariser Salpêtrière.
Auf die Bemerkung der Klinikpsychologin, ihr Gesicht sei doch ihre Identität, reagiert Nastassja jedoch mit einer Revolte. Wilde Purzelbäume schlagend (Nielsen) kehrt sie zurück zum Ort ihres „Unfalls“. Doch als „Miedka“, halb der Wildnis und halb der rationalen westlichen Zivilisation verhaftet, bleibt sie auch dort ein Fremdkörper. „Du bist das Geschenk, das die Bären uns gemacht haben, indem sie dich am Leben gelassen haben“, erklärt ihre ewenische Freundin Darja.
Die Aufführung ist kein naturromantisches oder ökomoralisches Traktat, sondern stellt in 80 hochkonzentrierten, emotional berührenden Minuten irritierende Fragen nach der Möglichkeit des Zusammenlebens von Menschen und Umwelt. Langer Beifall.
Info: Ausgewachsene Kamtschatkabären wiegen bis zu 600 Kilogramm. Aufgerichtet sind sie an die 2,50 Meter hoch. Es handelt sich um die größte Unterart des Braunbären. Von der folgenreichen Begegnung mit einem Exemplar dieser gewaltigen Tiere handelt Nastasja Martins Erzählung „An das Wilde glauben“ (Matthes & Seitz, 144 S., 18 Euro).